Haltung

St. Galler Tagblatt, 18. April 1998

 

Die Kritik ist sich einig: Schlecht geschrieben sei es, Aline GrafsTagebuch über ihr Liebesleben mit Niklaus Meienberg. Zugegeben, wessen Leselust nicht durch ein unerschöpfliches Interesse an der Person Meienberg wachgehalten wird, ermüdet weit vor den letzten der 400 Seiten. Trotzdem schwingt in manchem literarischen Argument gegen Grafs Enthüllungen oft anderes mit, es schmeckt nach Moralin: Wer einen solch unappetitlichen Gegenstand wählt, sollte um so kapriziöser darüber schreiben. Stil sollte die Niederungen des Gegenstands überfliegen helfen!

Nein, sagt Aline Graf - und man kann bei ihr wenn nicht Stil, so doch Schreib-Haltung entdecken. Es ist die Lakonie, die bleibt, auch wenn die Seelen ausgelaugt und die Körper ausgebrannt sind, auch wenn die Zustände zum Himmel schreien. Die Notierende verharrt in dieser Haltung in oft gnadenloser Weise gegenüber ihrem «Gegenstand», aber auch gegenüber sich selbst. Vielleicht sollte man Aline Grafs Schrift auch unter den Gesichtspunkten betrachten, die sie wählt. Zum Beispiel: Es sei ein Steinbruch, den Literaturwissenschafter ausbeuten könnten. Tatsächlich: Wie hilfreich könnten private Notate über Max Frisch, Tolstoi oder Goethe sein (obwohl Meienberg nicht mit ihnen zu vergleichen ist)! Biografische Dunkelstellen wären zu beleuchten, einzelne Texte erhielten einen anderen Hintergrund.

Und Aline Graf ist nicht die erste, die ihr «journal intime» verfasst hat. Solche Berichte haben Tradition, eine literarische, aber auch eine dokumentarische, politische. Ansätze, auf den «anderen Niklaus Meienberg» differenzierter und gerechter zu reagieren, wären vorhanden. Abgesehen davon, dass die oft kaum verdeckte moralische Entrüstung die Diskussion verhindert und den moralischen Standpunkt der Autorin stärkt. Sie muss sich darin bestätigt sehen, dass es auch heute noch viel Mut braucht, um die männlichen Dinge beim Namen zu nennen.

Matthias Müller